Ist sie schuldig?: Der Fall “Anna O”

Die junge Anna Ogilvy schläft. Tief und fest. Seit vier Jahren. Seit jener Nacht, als man sie weggetreten fand, ein blutiges Küchenmesser in der Hand, neben den Leichen ihrer beiden besten Freunde. Für die einen ist "Anna O" eine kaltblütige Mörderin. Die And…


Ist sie schuldig?

Der Fall “Anna O”

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Von Thomas Badtke

14.09.2024, 13:06 Uhr

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Die junge Anna Ogilvy schläft. Tief und fest. Seit vier Jahren. Seit jener Nacht, als man sie weggetreten fand, ein blutiges Küchenmesser in der Hand, neben den Leichen ihrer beiden besten Freunde. Für die einen ist “Anna O” eine kaltblütige Mörderin. Die Anderen glauben an ihre Unschuld. True Crime at it’s best!

“Es tut mir leid. Ich glaube, ich habe sie umgebracht.” Ein Satz, geschickt von Anna Ogilvy in der Whatsapp-Gruppe ihrer Familie. Ein Satz, der danach viral geht, medial ausgeschlachtet wird. Der Grund: Anna wird neben den Leichen ihrer beiden besten Freunde gefunden. Sie wurden ermordet, mit jeweils zehn Stichen mit einem Küchenmesser. Genau das befindet sich noch in Annas Hand, ihre Kleidung trieft vor Blut. Auf den ersten Blick ist die Sache klar. Aber Anna schläft. Tief und fest. Und das mittlerweile seit vier Jahren.

Ihr Fall, der Fall Anna O., hat seitdem und deshalb Berühmtheit erlangt. In der Öffentlichkeit scheiden sich die Geister, kochen die Gemüter bei der Erwähnung ihres Namens hoch. Ist sie schuldig? Oder vielleicht das Opfer einer Intrige? Sie selbst kann die Frage nicht beantworten. Sie soll es aber möglichst bald tun, so will es das Justizministerium, damit endlich Ruhe einkehrt. Im Schlaflabor “The Abbey” soll Dr. Benedict Prince, Psychologe und Experte für im Schlaf begangene Verbrechen, “Sleeping Beauty” Anna O. aufwecken.

Dornröschen mal anders

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Mit einem Kuss wäre es natürlich zu einfach. Auch wenn Bens Nachname Prince das nahelegt. Das Problem: Es gibt zwar Fälle, bei denen “Langzeitschlafende”, teilweise nach Jahrzehnten, wieder aufgewacht sind. Es war aber immer purer Zufall. Ein geprüftes Prozedere für solche Fälle gibt es in der Praxis nicht, nur in der Theorie. Genau darin liegt die Stärke von Prince, nun darf er seinen Forschungsansatz in der Praxis testen.

Doch Prince wird dabei beobachtet: Von Harriet, der Krankenschwester, die Anna O. seit Jahren betreut; von seiner Chefin und dem Justizministerium; seiner Ex-Frau Clara, die als Kommissarin damals als Erste am Tatort war; von Annas Mutter Emily, einer früher einflussreichen Politikerin mit Verbindungen nach ganz oben; von Annas Vater, einem Finanzmagnaten, der es mit der ehelichen Treue nicht sehr genau nimmt; von einer Bloggerin, die über geheime Aufzeichnungen von Anna verfügt, und von dem mysteriösen Patienten X.

Er war es, dem Anna als Journalistin und Herausgeberin ihres mit den beiden nun toten Freunden gelaunchten Magazins “Elementary” auf der Spur war. Patient X, der Schlüssel in einem Mordfall, der das Land 1999 erschütterte, als Susan Turner, das “Monster von Stockwell”, ihre zwei Stiefkinder mit einem Messer erstochen haben soll, während sie selbst schlief. Sie selbst landete danach in der Psychiatrie und brachte sich dort um.

Psychologischer Rätselstoff

Viel Stoff, viele offene Fragen und die verzwickte Suche nach der einen, ultimativen Antwort: Das bekommt der Hörer von Matthew Blakes Thriller “Anna O.”. Er kommt vierstimmig – Oliver Siebeck, Anne Düe, Vera Teltz und Tanja Geke, allesamt Profis im Hörbuch-Sprecher-Genre -, bleibt aber nicht nur deshalb im Kopf. Das Thema an sich ist es, das aufwühlt: Kann man, während man schläft, Verbrechen begehen, gar jemanden umbringen? Ist man sich dessen dann überhaupt bewusst? Psychologie für Fortgeschrittene, aber für jedermann verständlich dargebracht – das kann sich der Autor auf seine Fahnen schreiben. Hier mal ein kleiner Exkurs zu Sigmund Freud, dort mal in die Abgründe von Truman Capotes Meisterwerk “Kaltblütig”. Blake weiß, was er tut, wie er den Hörer immer tiefer in den Plot zieht und in die düstersten Winkel eines verworrenen Geistes.

Er springt dabei zwischen den Charakteren hin und her, erzeugt so aber eine erzählerische Dichte und Tiefe, die dazu animiert, das Zwölfeinhalb-Stunden-Audiobook in einem Rutsch durchzuhören. Blake wirft auch mal einen Rückblick ein, der auf den ersten Blick für mehr Klarheit beim Hörer sorgt, auf den zweiten aber eine falsche Fährte legt. Bis zum Ende des bei S. Fischer und Argon erschienenen Werkes weiß man nicht, wie man die Frage der Schuld von Anna O. beantworten soll. Erst in allerletzter Minute öffnet Blake dann die Tür, hinter der sich die Lösung der Frage verbirgt. Und glauben Sie mir, DIE haben Sie nicht kommen sehen …

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