Vergessen, aber nicht verloren: Die uralte Inselsprache Manx findet wieder Gehör
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Die keltische Sprache Manx galt auf der Isle of Man lange als nahezu ausgestorben. Heute beleben engagierte Menschen das Idiom wieder.
Frühmorgens am Princess Pier in Liverpool. Es dauert noch bis zur Abfahrt. Drinnen im Warteraum ist es etwas wärmer. Leute sitzen auf Plastikstühlen, der Kaffee kommt aus dem Automaten. Dann eine Stimme: «Manannán is here.» Der Warteraum leert sich. Zeit fürs Fotoshooting.
«Manannán» hat Power. Horsepower, um genau zu sein. Mit vier Wasserstrahldüsen und strammen 39 157 PS absolviert der Katamaran die 186 Kilometer von Liverpool nach Douglas, Isle of Man, locker in zweieinhalb Stunden. Und nicht nur das. Er sieht auch toll aus. «Manannán» ist zwar (nur) eine Fähre, tritt aber auf wie eine Oligarchenjacht, Format XXL, eine stromlinienförmige Beauty in Weiss und Dunkelblau. Voll beladen schafft sie 74 km/h, leer düst sie mit knapp hundert Sachen über die Irische See.
Gebaut haben die Schnellfähre die Australier. 1998 ging sie in Betrieb, hiess mal «Devil Cat», mal «Top Cat». Dann erwarb sie niemand Geringeres als die US Navy, verpasste ihr den grauen Namen «Joint Venture» und einen ebensolchen Tarnanstrich und setzte sie sieben Jahre lang als Truppen- und Materialtransporter ein.
2008 kaufte sie die Isle of Man Steam Packet Company. Seither, wie gesagt: «Manannán», ein gälischer, ein Manx-Name. Wie der keltische Supergott Manannán Mac Lir: Gebieter über die See und das Jenseits. Gestaltwandler. Hüter seiner Insel, der Isle of Mann, ja, auch mit Doppel-N, denn die Isle of Man, in Manx Mannín oder Ellan Vannin, ist sein Herrschaftsbereich. Er verteidigt sie gegen aussen und stärkt sie nach innen. Mit ihm ist nicht zu spassen.
Auch wenn er ganz freundlich blickt. «Ich weiss, wer ihr seid. Ihr seid Reisende», meint im Videoclip ein älterer Herr in weitem Gewand. Ich sitze im Eingangsbereich des House of Manannán, eines Museums in Peel, einem kleinen Städtchen an der Westküste. Von nun an wird mich Manannán durch die Geschichte seiner Insel führen, von einer lebensechten Nachbildung zur nächsten. Ein keltisches Rundhaus komplett mit Feuerchen und schlafendem Hund. Ein irischer Mönch, die Bibel in der Hand. Ein Wikinger, sesshaft geworden, der mit seiner Insel-Frau nicht mehr sein Altnordisch, sondern ihr Manx spricht.
Ich bummle durch die Jahrhunderte: von den Schotten und ihrem Sieg über die Nordmänner in der Schlacht von Ronaldsway im Jahr 1275 zu den Engländern, die im 15. Jahrhundert die Schotten nach und nach vertreiben.
Ich schaue beim Schmied rein, in der Kneipe, spaziere über den Fischmarkt, Geruch inklusive. Ja, richtig, es stinkt.
«Na, hat’s gefallen?», fragt die junge Frau bei der Kasse, als ich wieder ans Tageslicht trete. «Allerdings. Sehr plastisch. Kinder müssen so etwas lieben.» – «Gerade gestern war eine Klasse hier. Eine von der Bunscoill-Schule. Das war eindrücklich, die haben untereinander nur Manx gesprochen.» Die Bunscoill-Ghaelgagh-Primarschule, muss man wissen, ist die Vorzeigeschule auf der Isle of Man. Aber davon später.
Steuerparadies auf der ehemaligen Wikinger-Insel
Die Isle of Man, 572 Quadratkilometer, rund 85 000 Einwohner, definiert sich durch ihr Anderssein. Manx spielt dabei eine Rolle, die einstmalige (vorwiegend gesprochene) Inselsprache, eine der drei goidelischen Sprachen, verwandt mit dem irischen und schottischen Gälisch. Dann vier Jahrhunderte Wikinger-Herrschaft und ihr Erbe: altnordische Ortsnamen wie Snaefell (Schneeberg) oder Laxey (Lachsfluss), das nach Wikinger-Vorbild organisierte Parlament Tynwald. Kommt der Status einer Crown Dependency hinzu: Die Isle of Man ist zwar britisch, aber nicht Teil des Vereinigten Königreichs, sondern direkt der Krone unterstellt. Sie gehört sozusagen ins Immobilienportfolio Seiner Majestät, des Königs Charles III., Lord of Mann.
Die Aussen- und Sicherheitspolitik bestimmt Westminster. Nationales aber erledigen die Bewohner der Isle of Man in Eigenregie. Mit Erfolg. Denn die Isle of Man hat sich als Steueroase neu erfunden. Versicherungen, E-Gaming-Anbieter, Finanzdienstleister sind mit Niederlassungen präsent. Vermögende Engländer kaufen sich ein Haus. Die Insel ist Unesco-Biosphärenreservat und «safe» dazu. Sagt ein (zugezogener) Restaurant-Besitzer: «Mir gefällt es. Hier bezahle ich 20 Prozent Steuern. In England wäre es mehr als das Doppelte. Und die Leute sind so freundlich. Sie haben immer ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie zur Tür reinkommen.»
Über den Daumen gepeilt, sprechen zurzeit etwas mehr als 2000 Leute Manx. Das sind viel, viel mehr als die 165 im Jahr 1961, aber noch lange nicht genug. Bis 2032 sollen es 5000 werden, so das Ziel. Kommt hinzu: Wie gut einer Manx spricht, bleibt ungewiss. Meint ein Kenner der Materie: «Wenn heute einer fliessend Manx spricht, so ist das die Ausnahme.» Relativiert eine Kennerin: «Hauptsache, die Leute reden. It’s better to speak bad Manx than good English.»
Holpriges Manx dient der Sache mehr als geschliffenes Englisch: Es geht um Sprachrettung, nicht um Schönheit. Zumindest vorderhand. Schliesslich stuft die Unesco Manx als «critically endangered» ein, als eine vom Aussterben bedrohte Sprache.
Manx lernen: Der Schlüssel liegt im täglichen Training
Ich habe mir ein Buch gekauft, «Manx Phrases» von Adrian Cain, damit ich mir zumindest ein Bild machen kann: «Shegin dhyt prowal cliaghtey Gaelg dagh laa my t’ou geearree loayrt ee dy mie.» Wenn du gut Manx sprechen willst, musst du versuchen, täglich zu üben.
Sagt die Kennerin: «Wenn du dich dahinterklemmst, schaffst du es in zwei Jahren.» Wirklich?
Ach, übrigens, die Fahrt auf der Schnellfähre hat Spass gemacht. Aufs Meer raus schauen, Tee trinken, Sandwiches essen. Kann ich stundenlang und länger. Aber dann kam die Stimme über die Bordlautsprecher und meinte, wir sollten doch bitte zu unseren Fahrzeugen gehen, wir würden gleich anlegen.
Zweisprachige Ortstafeln und Förderprogramme
Die Biker fahren als Erste über die Rampe. Biker sind jederzeit willkommen, auch ausserhalb der TT, der Tourist Trophy, des gefährlichsten Motorradrennens der Welt. Danach werden die Autos rausgewinkt. An der Wand des Fährterminals steht zur Begrüssung «Welcome to the Isle of Man» und gleich anschliessend in Manx «Failt erriu gys Mannín». Zweisprachig also. Dann kurz nach dem Kreisel die Ortstafel «Welcome to the Borough of Douglas» und darunter, etwas kleiner: «Ta Balley Corpagh Ghoolish cur failt erriu».
Die Regierung ist seit den 1980er Jahren mit an Bord. Sie stellt zweisprachige Ortstafeln auf und publiziert zweisprachige Bulletins. Sie finanziert die Manx-only-Schule Bunscoill Ghaelgagh und Manx-Förderprogramme und hat an den englischsprachigen Schulen Manx-Sprachunterricht in die Lehrpläne aufgenommen. Allerdings mangelt es an Lehrpersonal, und das Angebot ist an vielen Schulen mit einer halben Stunde Unterricht die Woche minimal. Eines aber ist allen Verantwortlichen klar: Manx-Unterricht bleibt freiwillig. Denn Zwang generiert Ablehnung. Und Ablehnung, das hatten sie schon einmal.
Manx wird als Kauderwelsch der armen Leute abgetan
Nach dem Fährterminal die Promenade, das Wahrzeichen von Douglas: zweieinhalb Kilometer viktorianische Grandezza aus der Zeit des 19. Jahrhunderts, eine vorzugsweise in Pastellgelb gehaltene Staumauer des gutbürgerlichen Geschmacks. Hochgeschossiges Hotel reiht sich an hochgeschossiges Apartmenthaus, alle mit Brise und Meerblick. Noch immer fährt die Pferde-Trambahn, allerdings nurmehr halbe Strecke. Auf dem breiten Gehweg lässt sich prima flanieren, joggen, den Hund spazieren führen.
Das 19. Jahrhundert ist die Hochzeit des Tourismus auf der Isle of Man. Und für Manx der Anfang vom Niedergang. Wachsen bis zur Mitte des Jahrhunderts alle Kinder zweisprachig auf, Manx zu Hause, Englisch in der Schule, nimmt die Zweisprachigkeit anschliessend kontinuierlich ab. Wer Arbeit sucht, findet sie im Tourismus, in den feinen Hotels, wo die englische Kundschaft logiert.
Manx gerät in Verruf. Und zwar anhaltend. Noch in den 1970er Jahren kann es Eltern passieren, dass Wildfremde sie anschnauzen, wenn sie sie mit ihrem Kind Manx sprechen hören: «Was fällt Ihnen ein, ihm dieses Kauderwelsch beizubringen?» Englisch, das ist fortan die Sprache des Erfolgs, der Weltläufigkeit. Manx hingegen riecht nach Armut, nach Hinterwäldlertum, nach Kohl und Kartoffeln in feuchten Häusern.
Etliche halten dagegen. Linguisten und Liebhaber – an vorderster Front: Brian Stowell, er stirbt 2019 im Alter von 83 Jahren – nehmen sich der Sprache an, forschen, schreiben, machen Tonaufnahmen. Eine eigentliche Grassrootsbewegung formiert sich. 1974 stirbt Ned Maddrell, Fischer und Seemann, im Alter von 97 Jahren. Auf Youtube kann man ihn erzählen hören. Er war der letzte Muttersprachler. Seither wird Manx keinem mehr in die Wiege gelegt. Man muss es lernen.
Am besten, man ist noch ganz klein. Dann geht es von allein. Also hängt Phil Gawne in Liverpool sein Biochemie-Studium an den Nagel, studiert stattdessen Manx bei Brian Stowell und gründet unter Mithilfe einiger Freunde und Bekannter eine Manx-Kinderkrippe. «Stell dir vor, ich und eine Krippe, ausgerechnet ich.» Da muss er lachen. Wir sitzen zusammen im «Greens Restaurant» in St John’s, sein Kräutertee wird kalt, das Butterbrot bleibt lange unangetastet. Phil Gawne redet. Er verliert langsam die Geduld. Es dauert alles viel zu lange.
Ohne Manx lässt sich die Kultur der Insel nicht verstehen
Er hat ja nicht nur die Krippe, er hat auch die Bunscoill-Ghaelgagh-Primarschule mitgepusht. Die Schule für die 5- bis 11-Jährigen, alle Fächer in Manx. Es gibt sie seit 2002. Im Schnitt vier bis fünf Klassen, 54 Mädchen und Jungs. Ein voller Erfolg. Ein Scoop, auch. Die Presse liebt so etwas, gerade letzthin kam die «New York Times» vorbei. Das ist doch Publicity für die Insel, mal etwas anderes als die TT. Aber gibt es deswegen etwa mehr finanzielle Unterstützung von Regierungsseite? Mehr Geld für mehr Krippen?
Phil Gawne ist jetzt 58, er war lange selbst in der Regierung, zuletzt als Minister für Infrastruktur. «Zu viele geben sich mit zu wenig zufrieden. Ich will Manx auf der Strasse und am Arbeitsplatz hören, nicht nur im Pub und in der Studierstube.» Und, ganz wichtig: «Manx ist nicht nice to have. Nice to have reicht nicht. Ohne Manx kann man unsere Geschichte, unsere Kultur nicht verstehen. Wir sind nun mal kein Anhängsel Englands.»
Vom Restaurant zur Bunscoill-Ghaelgagh-Primarschule sind es nur ein paar Schritte. Draussen graue Mauern, drinnen ein Setting wie auf einem Kindergeburtstag: bunt, quirlig, alle Türen offen, überall was los.
Julie Matthews, die Rektorin, führt mich von Klasse zu Klasse. Mit den Kleinsten spricht die Lehrerin noch abwechselnd Englisch und Manx. Brav sitzen sie in ihren dunkelblauen Schuluniformen auf ihren Stühlchen. Sie sind fünf Jahre alt, jung genug, um eine neue Sprache mühelos zu lernen, sie aufzusaugen wie ein Schwamm. Es wird nicht lange dauern, und sie werden zweisprachig sein, in Wort und Schrift, wie die 11-Jährigen, die nun fliessend vorlesen, was sie übers Wochenende erlebt haben (wie mir die Lehrerin erklärt).
Bald werden sie an eine weiterführende, englischsprachige Schule wechseln, ein paar linguistische Akklimatisationsprobleme inklusive. Sollten sie an einer Universität studieren wollen, müssen sie die Insel verlassen. Werden sie zurückkommen?
Julie und ich haben uns in ein ruhiges Zimmer zurückgezogen. César, 27, ein in Oxford ausgebildeter Geigenbauer, setzt sich dazu. Er hat sein Manx an der Bunscoill gelernt und unterrichtet jetzt selbst. Ja, er will weiterhin Geigen bauen. Aber nicht in England. Er will zu den Kelten oder zumindest in ihre Nähe, nach Nantes. Und dann zeigt er mir ein Video, er tanzend auf einer Bühne am Festival Interceltique de Lorient, 750 000 Leute aus allen keltischen Sprachregionen, nebst der Bretagne aus Cornwall, Wales, Irland, Schottland und der Isle of Man. «Galizien und Asturien nicht vergessen», ergänzt Julie. War sie auch dort? «Ja, klar. Man kennt sich. Man tauscht sich aus. Ich singe in einem Chor. Andere musizieren, tanzen. Wir sind wie eine grosse Familie. Es ist phantastisch.»
Manx kennt etliche Ausdrücke für Wind und einen für E-Mail
Dieses Zugehörigkeitsgefühl: Breesha Maddrell kennt das. Sie ist Direktorin von Culture Vannin, dem Kultur-Hub für alles, was mit Manx zu tun hat: Sprache, Musik, Tanz, Folklore ganz allgemein. In einem schmucken kleinen Haus gleich neben der Bunscoill-Ghaelgagh-Primarschule arbeiten sechs Leute daran, dass es dem Manx-Interessierten an nichts fehlt: «Ich möchte ein Festival auf die Beine stellen. Könnt ihr mir helfen?» Oder: «Ich bin auf der Suche nach einem Sprachkurs, einer Gesprächsgruppe.» – «Was heisst ‹Hund› auf Manx, und wie spricht sich das aus?» Auf der Website lässt sich (fast) alles finden. Culture Vannin ist auf X und Facebook. Und auf Youtube kann man zur Unterhaltung die Folksängerin und Mitarbeiterin Ruth Keggin Gell Manx-Lieder singen hören.
Breesha Maddrell hat in Sheffield Germanistik studiert, in Deutschland Englisch unterrichtet und ist zurückgekommen. «Hier gehöre ich hin. In meiner Freizeit rede ich Manx mit meinen Freunden, singe in einem Chor, spiele Flöte. Ich mache keinen Unterschied zwischen Job und Leidenschaft.» Und Manx, diese uralte Sprache, die sich der Neuzeit anpassen muss, sei doch ein besonders interessantes Studienobjekt.
E-Mail heisst postl, so hat es der Manx Language Advisory Council, ein Gremium von zehn Spezialisten, festgelegt. Gollan geayee heisst Windgabel heisst Schwalbe, das war schon immer so. Nicht erstaunlich, gibt es für «Wind» eine ganze Anzahl Wörter. «Diese Sprache ist eine hauptsächlich gesprochene Sprache. Sie ist im Fluss. Sehr dynamisch. Ich sage immer zu den Leuten: ‹Ihr müsst nicht perfekt sein. Hauptsache, ihr redet.›»
Im Empfangsraum von Culture Vannin hängt ein Plakat, ein Schmunzelplakat, darauf Manannán: gross, hager, langes weisses Haar. Daneben in dicken Lettern «Vote Manannán», «Gebt Manannán eure Stimme». Weshalb eigentlich? «Na», steht da geschrieben, «weil ich Supergott bin und alles kann: Gestalt wandeln, Nebel produzieren, Insel beschützen. Und meine Schützlinge wissen das zu schätzen. Als Dankeschön haben sie der Fähre meinen Namen gegeben.»