Ein Labyrinth an Blowjobs, männlichen Geschlechts- und Körperteilen ist das Tuschel-Thema in Berlin. Dass Andy Warhol queer war, wird in der Neuen Nationalgalerie endgültig festgeschrieben. Und gefeiert. ntv.de hat die Ausstellung zwischen Kunst und Porno besucht.
Marilyn-Porträts, Campbell-Suppendosen, Brillo-Boxen sind ganz klar Sinnbild für Andy Warhol und hängen – vielfach kopiert – in Appartements auf der ganzen Welt. Die begehrten Originale bekommt das Publikum in der Neuen Nationalgalerie nicht zu sehen. Stattdessen werden in Berlin junge Männer in intimen Posen, blanke Hintern, allerlei Körper- und Geschlechtsteile gezeigt. Absolut nicht instagramable. Die berührende Ausstellung “Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty” räumt endgültig mit dem Mythos auf, dass Warhol kühl und mehr oder weniger asexuell war.
“Es ist weitaus besser, nur in der Fantasie zu lieben, statt in der Realität. Es nie zu tun, ist sehr aufregend”, sagt der Künstler 1979 in der Zeitschrift Forum. Seine Queerness ist eigentlich ein offenes Geheimnis. Trotzdem sind seine homoerotischen männlichen Aktzeichnungen, Fotografien und eindeutigen Filme bisher noch nie in Galerien oder Museen gezeigt worden. Alles, was jetzt in der Neuen Nationalgalerie präsentiert wird, sei zur Veröffentlichung bestimmt gewesen, betont Klaus Biesenbach, Kurator und Museumsdirektor, bei der Eröffnung.
Sehnsucht und Herzschmerz
Erstmals sind selten ausgestellte Gemälde, Zeichnungen, Foto- und Videoarbeiten von vielen privaten Leihgebern unter einem Dach versammelt. Zusammen verdichten sie das Porträt eines fluiden, verletzlichen Mannes, der sich nach idealer Schönheit und Körperlichkeit sehnt. Direkt geoutet habe sich Warhol nie, sagt Co-Kuratorin Lisa Botti ntv.de im Gespräch. “Es gibt keine Fotos, die ihn Händchen haltend zeigen. Aber er hatte feste Partner, die bei ihm gelebt haben. In Interviews gab er gerne zwiespältige Antworten und führte Journalisten in die Irre. Seinen Tagebüchern vertraute er seinen Herzschmerz an.”
Diese habe er kontinuierlich diktiert, weiß die Kunsthistorikerin. 1987 stirbt Warhol bei einer Gallenoperation und zwei Jahre später kann man das von ihm geschriebene Buch kaufen. Netflix hat 2022 mit der Miniserie “The Andy Warhol Diaries” das Private endgültig offen gemacht. Jetzt entert der queere Warhol mit entsprechender Kunst erstmals ein Museum. So viel Fleisch und Sex gab es in der Neuen Nationalgalerie noch nie. Selbst Bananen werden in diesem Kontext eindeutig zweideutig aufgeladen.
Berlin ist der richtige Ort für Warhol
Muss das Publikum diese spezielle Ausstellung gesehen haben? “Ja”, so Lisa Botti. “Die Bilder, die wir zeigen, füllen Leerstellen und zeichnen ein komplexeres Bild von Warhol. Warum diese Arbeiten bisher nicht gezeigt wurden – das versuchen wir anhand der Biografie und einer Zeitleiste zu beleuchten. Berlin 2024 ist zudem der richtige Ort für unsere Ausstellung.” Werkserien wie die Sex Parts oder die Torso-Gemälde gehören hier ganz selbstverständlich zu Warhol. Besonders relevant ist die Ausstellung auch deswegen, weil Homosexualität heute in einigen Teilen der Welt noch immer verfolgt wird.
Der Balanceakt zwischen Kunst und Porno ist diffizil. Es gibt sogar eine Triggerwarnung. Erwachsene werden gebeten, mit ihren jüngeren BesucherInnen in den Dialog zu gehen, aktiv über Schamgefühle oder Verstörendes zu reden. Warhols Filme, die in einem kinoähnlichen Raum gezeigt werden, sind erst ab 16 Jahren freigeben. Die Kuratoren haben bewusst Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen und sich für die richtige Positionierung Rat geholt.
Der begehrte Warhol
Sehnsucht, Begehren und das Ringen damit ziehen sich wie ein roter Faden durch die Schau. Den Auftakt machen zarte Zeichnungen aus den 50er Jahren, die eher harmlos sind. 1928 als jüngster Sohn slawischer Einwanderer in Pittsburgh geboren, zieht er 21-jährig nach seinem Grafikstudium nach New York. Im boomenden Big Apple wird der als Andrew Warhola Geborene endgültig zum extravaganten Andy Warhol. Als Illustrator verdient er gut, kann sich ein eigenes Townhouse leisten, kauft selbst Kunst. Die Werbeindustrie lebt in dieser Zeit von Illustration und Warhol ist sehr gefragt.
Er will mehr, er will Künstler werden. Mit feinen Linien zeichnet Warhol Körper um Körper, teilweise mit Blattgold belegt. Aktzeichnen habe Andy Warhol schließlich gelernt, so Biesenbach. Zu der Zeit sei Figuration kein Verkaufshit, denn abstrakte Malerei war damals en vogue. Diese Zeichnungen zeigen einen sehr persönlichen Warhol. Über die Jahre werden sie immer expliziter, er malt intime Handlungen unter Männern.
Warum hat der Künstler solche Szenen nicht einfach fotografiert? Der Besitz solcher Fotos, das Produzieren oder Entwickeln sei damals riskant gewesen und hätte unter Strafe gestanden, erläutert der Museumsdirektor. Homosexualität war in vielen Teilen der Welt illegal. In den USA wurden Schwule in der McCarthy-Ära als Perverse gebrandmarkt und verfolgt.
Elvis und die gezogenen Waffen
Das Aufkommen der Polaroidkamera Ende der 50er Jahre habe Warhol ermöglicht, Bilder zu produzieren, ohne in der Dunkelkammer zum “Kriminellen” zu werden, weiß Klaus Biesenbach. In der Neuen Nationalgalerie entfaltet sich dank diesen Sofortbildern eine Galerie der vielen Warhols. Mit rot gemalten Lippen und immer neuen Perücken spielt er mit Identitäten. Jenseits der Selfies hält der Künstler auch Körperfragmente wie Achselhöhlen, Hüften, Füße oder Lippen fest. Scheinbar sammelt er kontinuierlich und sehr detailliert das klassische Schönheitsideal.
Betrachtet man die Kunst von Andy Warhol mit dem Wissen um seine Identität anders? Das bejahen die Kuratoren. “Der doppelte Elvis aus dem Jahr 1963 hängt normalerweise in unserer Sammlung bei der Pop-Art”, erklärt Lisa Botti.
“Das Bild wird mit anderen Hollywood-Celebrities gezeigt. In dieser Ausstellung achtet man plötzlich auf Elvis’ Hüftschwung, man denkt sofort an all die Fans, die in Ohnmacht fielen, wenn er den machte.” Zudem sei das Bild aus einem Film-Still entstanden. Der Western trage den Titel “Flaming Star” und das Wort flaming, so Botti weiter, sei in der Zeit, wie auch flamboyant, als eine Art Codewort für gay benutzt worden. Die gezogenen Waffen von Elvis schieben die Fantasie zusätzlich an.
Genitalien en masse
Der Kunstmarkt liebt Warhol für solche überdimensionierten Siebdrucke, die er in Serie produziert. Wer Geld auf den Tisch legt, wird in Warhol-Manier porträtiert. Die Pop-Art hat ihn weltweit zur viel beschäftigten Ikone gemacht. Viele seiner Werkserien sind simple Auftragsarbeiten. So wie die großartigen Bilder von Dragqueens, die Warhol selbst noch mit Farbe bearbeitete. Zunächst wollte er diesen Auftrag nicht annehmen, weil das Thema nah an ihm dran war. Am Ende schuf er statt 100 sogar 300 Gemälde. Die prächtigen “Ladies and Gentlemen” begrüßen in Berlin die Besucher.
Die eigentlich gläserne Halle der Neuen Nationalgalerie wurde geschickt mit Wänden umfunktioniert, sodass von außen wenig Warhol sichtbar ist. Im Innern der Ausstellung versteckt sich ein Raum voller Bilder, die 1977 für eine Wanderausstellung entstanden. Genitalien und Popos en masse, groß, abstrakt und farbig. Genauso wie hier sei das in Paris und Kalifornien damals gezeigt worden, sagen die Kuratoren. Beim Betrachten der eindeutigen Werke fragt man sich, wo die Bilder danach weggesperrt waren.
Vielleicht spielte hier auch die Aids-Epidemie eine Rolle, denn mit der Krise setzte eine gnadenlose Homophobie sein. Andy Warhol war 1968 nach dem Attentat der radikalen Feministin Valerie Solanas dem Tod entronnen. Krankheit begleitet ihn seither, sein Körper war nur mühsam zusammengeflickt worden.
Er hatte große Angst, sich bei seinem Partner Jon Gould anzustecken, der 1984 mit dem HI-Virus infiziert an einer Lungenentzündung starb. “Bei der Eröffnung des Centre Pompidou 1973 in Paris soll Warhol gesagt haben, jetzt will ich das machen, was ich will”, so Lisa Botti. Es kam anders. Doch er schuf weiterhin seine als unmoralisch und illegal angesehenen Werke. Und die werden erst 38 Jahre nach seinem Tod in einem Museum gezeigt und enthüllen endlich eine vollständigere Vorstellung von Warhol.
“Andy Warhol. Velvet Rage and Beauty”, bis zum 6. Oktober, Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin