Renommierter geht es nicht: Choreograph John Neumeier, seit Samstag 85 Jahre alt, machte das Hamburg Ballett berühmt – und sich selbst. Der Ehrenbürger Hamburgs wurde 2023 in den Orden »Pour le Mérite« aufgenommen, Ritter der französischen Ehrenlegion ist er seit 2003. 2016 erhielt er den »Oscar des Balletts«, den »Prix de Benois de la Danse« in Moskau. Die »Goldene Maske«, den höchsten russischen Theaterpreis, bekam er gleich zweimal. Außerdem nahm er den mit 350.000 Euro dotierten japanischen Kyoto-Preis, dazu dänische, polnische, schwedische und italienische Preise in Empfang und räumte sowieso alle verfügbaren deutschen Ehrungen ab. Gold und Silber in rauhen Mengen, die 51jährige Amtszeit als Ballettboss in Hamburg: Er ist ein Tycoon.
Doch im Sommer wird Neumeier sich als Ballettintendant verabschieden und nur noch kreieren. Der junge Deutsch-Argentinier Demis Volpi wird dem Deutsch-US-Amerikaner nachfolgen. Auf dem Spielplan werden Werke von Neumeier bleiben. Der wählte als Jubiläumsstück seine diffizile »Odyssee«.
Die entstand frei nach Homer in Kooperation mit dem Komponisten George Couroupos und wurde 1995 in Athen uraufgeführt. Um es gleich zu sagen: Die Musik macht es einem schwer. Atonal und von wenigen guten Einfällen durchzogen, wirkt sie monoton. Die Trompeten dürfen viel quäken, liebliche Flötenklänge erschallen zu selten. Dafür wiegt die spannende Choreographie alles wieder auf: Der sinnliche Odysseus ist ein Held der Gegenwart, wider Willen geprägt von den Schrecken des Krieges. Ganz so, als hätte er in Vietnam oder in der Ukraine kämpfen müssen.
John Neumeier verrät im Programmheft, dass er in seiner eigenen kurzen Zeit beim Militär bemerkte, wie schnell der Mensch abstumpft. Wäre er nicht nach Europa gekommen, hätte man ihn wohl eingezogen. Heute zeigt er in der »Odyssee« Videos aus der Ukraine und auch aus Gaza: Die Entmenschlichung durch den Krieg hat den Pazifisten Neumeier immer stark beschäftigt.
Als Ausgleich zu den traumatischen Flashbacks ins Kriegsgeschehen widmet sich sein Odysseus der Damenwelt. Kalypso kommt als Jeans-Beauty daher, Nausikaa mit blondem Pferdeschwanz, Kirke in eng anliegenden Regenbogenfarben. Daheim wartet in schwarzer Eleganz die Gattin Penelope: weibliche Erotik in vielen verführerischen Bildern. Im Zentrum aber steht das Drama des Mannes. Alexandr Trusch tanzt die Hauptfigur mit so viel Einsatz und Ästhetik, dass man bereit ist, in Odysseus den Urtyp »Mensch« zu sehen.
Mit einem monströsen Federvieh, stirnlampenbewehrt, begegnet uns eine phantasievolle Version des Riesen Polyphemos. Hier ist es nicht der listenreiche Odysseus, der ihn tötet, sondern eine Horde Soldaten. Odysseus und sein Sohn Telemachos kommunizierten friedlich mit dem fremdartigen Ungeheuer.
Auf Telemachos muss man achten. Louis Musin, diese Saison schon als toller Romeo bejubelt, zeigt als Sohn des Odysseus große tänzerische Vielfalt in der Entwicklung zum Mann. Diensteifrig hüpft er mit Köfferchen über die Bühne, auf der Suche nach dem Vater, der auf einer Irrfahrt ist. Als er ihn findet und mit einer Phantomzeichnung identifiziert, gelingt eine warmherzige Nähe, in der Welt des Krieges fast absurd.
Es kommt einem in den Sinn, dass die Moderne auch mit Wirtschaft Krieg führt, nicht nur mit Bomben. Auch als die Jungmänner von Ithaka die Heimkehr des Odysseus mit lasziven Tänzen feiern, die so aggressiv sind, dass sie rasch in Kriegsgeheul umschlagen könnten, wird die Verschränkung von übersteigerter Männlichkeit und Kultur deutlich.
Ein Star ist Ballerina Yun-Su Park, mit blauer Samtrobe das Meer verkörpernd. Ihr sehen am Ende alle zu – nur Odysseus dreht sich um, neue Abenteuer witternd. Darin zeigt sich die metaphorische Bedeutung der Odyssee: als Reise eines Künstlers, der lebenslang von Werk zu Werk driften muss. Insofern ist John Neumeier ein weiteres fulminantes Selbstporträt gelungen.