Wäre man fies, aber eben ehrlich, man müsste hier von einer Emanzipation sprechen, die auch eine von Converge ist: Mit »Bloodmoon I« erschien vor drei Jahren eine Zusammenarbeit der Neofolksängerin Chelsea Wolfe und dem Progressive-Hardcore-Quartett, bei der man nicht den Eindruck bekam, dass es den Musikerinnen und Musikern guttue, dass sie sich da aufeinander zubewegten. Das Ineinandergerührte flockte; die recht konträren Intensitäten, Converges meschugge-technokratische und Wolfes meschugge-spiritistische, stießen einander ab.
An der kühlenden Elbe
Bis sie einen neuen Versuch wagen (der Titel des Albums verrät, dass es noch ein Geschwisterchen kriegen wird), hat Chelsea Wolfe mit »She Reaches Out to She Reaches Out to She« nun ihr siebtes Studioalbum veröffentlicht. Dafür fanden gleich mehrere Trennungen statt: Nach Missbrauchs- und Manipulationsvorwürfen gegen Labelgründerin Catchy Pellow beendete Wolfe vergangenes Jahr die Zusammenarbeit mit Sargent House, das seit »Pain Is Beauty« (2013) insgesamt vier ihrer Alben herausbrachte. Die Trennung vom Label geschah, da war die Arbeit am Album schon weit fortgeschritten: Seit dem Frühjahr 2021 schrieb Wolfe an den Songs – ein Pandemieprodukt also und das erste Mal, dass eine LP von ihr ohne Zuhilfenahme von Alkohol entstand. »Ich wollte nicht nur aufhören zu trinken, ich wollte verstehen, warum ich überhaupt getrunken habe. Viel davon hatte mit sozialen Interaktionen und meinem Selbstbewusstsein zu tun«, sagt Wolfe dazu dem deutschen Musikmagazin Visions Anfang Februar dieses Jahres. Kein Alkohol ist auch eine Lösung: »Man fällt nicht mehr direkt in den kreativen Zustand, sondern muss sich bewusst Zeit nehmen, um dieses Mindset zu erreichen. Das war zuerst eine Herausforderung, mittlerweile weiß ich dieses Ritual und die Klarheit dahinter aber zu schätzen und denke, dass ich nun bessere Texte und Melodien schreibe, weil ich wirklich anwesend bin.«
Anwesend und abwesend zugleich: Chelsea Wolfe habe ich nur einmal live gesehen, im brütendheißen August 2014 als freier Autor für die Dresdner Neuesten Nachrichten. Chelsea Wolfe und die Post-Black-Metal-Irren von Deafheaven, grad mit dem »Paranoid« des Blackgaze namens »Sunbather« unterwegs, fanden es amüsant, bei tausend Grad im Schatten den Briesnitzer Beatpol zu beziehen und das Publikum zu drangsalieren, indem sie es schmolzen. Genau an jenem Tag war ich vorab als Umzugshelfer gefragt, und wer beim Umzug hilft, der trinkt danach noch einige Biere. Also stand ich abends im eigenen Saft, ausgelaugt und angeleiert, beim mau besuchten Konzert, das das beste sein würde, das ich je erlebt habe. Bis zu meinem Tod werde ich bereuen, dass ich niemand animieren konnte, mich zu begleiten, weil alle lieber abends an der kühlenden Elbe lümmelten. Mir fehlen also Zeuginnen und Zeugen des Trips. Wolfes quasireligiöse Schlafwandelei trieb einen in eine Art ozeanischen, transzendenten Kater. Wahrscheinlich komme ich Gott (m/w/d) nie wieder so nahe.
Ionenstürme
Sicher hat sie mit ihrer Trockenlegung recht: Ihr ASMR-Gothrock ist an sich schon Rausch genug. Auch »She Reaches Out to She Reaches Out to She« ist so ein somnambuler Spaziergang. Der gezirkelte Titel der LP verrät: Hier wandelt sich etwas fortwährend. Wolfe hat mit den Jahren ihr Sortiment sukzessive erweitert. Mittlerweile finden sich gesampelte TripHop-Anleihen in ihren Songs, bei »Eyes Like Nightshade« hat man das Gefühl, dass das kakophone Tamburin hier zu einer Art Doom-Reggaeton klirrt, dem man den Clave abgezogen hat. Der Opener, »Whispers in the Echo Chamber«, ist zugleich Flüstergebet und opaker Fluch, dahinter quellen die Ionenstürme wolkenförmig, schwere Metal-Powerchords intervenieren allenthalben, ohne zu dominieren: »This world was not designed for us / And I’ve been punished, I’ve been blessed / Surrounded by living ghosts, you see / I thought I had to swallow them before they swallowed me.« Wenn ich Chelsea Wolfe auf ihrem neuen Album genau zuhöre, dann stehe ich noch mal da, im Dresdner Sommer 2014, dann ist das Jenseits wieder ganz nah, dann muss ich schlucken.